Musbärte - die wahre Geschichte



Es war einmal in Kalzendorf...


Regional eng begrenzt und im allgemeinen auf die Nachbardörfer beschränkt werden die Kalzendorfer gern mal als "Musbärte" bezeichnet - wo aber kommt diese Bezeichnung her?

In früheren Zeiten wurde alles, was im Garten, auf Feld und Wiese wuchs, verwertet und genutzt - entweder für die eigene Ernährung oder für die Tierhaltung. Man hielt Tiere für Fleisch, Milch und Eier, man nutzte ihre Wolle, ihr Fell und ihre Federn, man säte Getreide, steckte Kartoffeln und pflanzte Gemüse, hatte Obstbäume und Beerensträucher.

Im "Gemeindelexikon über den Viehbestand und den Obstbau für den Preußischen Staat", Heft 7 - Provinz Sachsen veröffentlichte das Königlich Preußische Statistische Landesamt 1915 die Ergebnisse der Vieh- und Obstbaumzählung von 1913. Darin wird für Kalzendorf ein Bestand an Pflaumen- und Zwetschenbäumen von 1315 Stück ausgewiesen - mehr als drei mal so viel wie Apfelbäume, fast zehn mal so viel wie Birnbäume und mehr als doppelt so viel wie Kirschbäume.

Kalzendorf - Vieh- und Obstbaumzählung 1913
Zählt man die in diesem Heft aufgelisteten Pflaumenbäume in den 5 Orten, die heute zur Gemeinde Steigra gehören, zusammen, so ergibt sich für das Jahr 1913 die beeindruckende Menge von insgesamt 12.488 Bäumen!
(Albersroda 2082, Schnellroda 1050, Jüdendorf 1516, Kalzendorf 1315, Steigra 6525)

Der Rohstoff ist vorhanden


Pflaumen für Pflaumenmus Da Pflaumenbäume in Kalzendorf also reichlich vorhanden waren, wurde bei allen Bauern und Dorfbewohnern zur Reifezeit der Pflaumen für den sofortigen Verbrauch und als Vorrat für die nächsten Monate Pflaumenmus in großer Menge gekocht. Ein Dokument aus der Turmkugel der Kirche vom 5. Dezember 1886 verzeichnet beispielsweise für 1886 ein Jahr, in dem die Pflaumenernte überreichlich ausgefallen ist und so in vielen Haushaltungen übermäßig viel Pflaumenmus gekocht wurde. Das Mus kann man als Brotaufstrich oder als Zutat zu Süß- und Mehlspeisen essen. Es besteht aus Pflaumen, Zucker und manchmal auch Gewürzen wie Zimt, Vanille oder Nelken und aus Walnüssen. Pflaumenmus zeichnet sich durch eine lange Haltbarkeit aus und weist dabei auch über mehrere Jahre kaum Qualitätseinbußen auf.

An Ausrüstung für das Muskochen war nicht allzu viel erforderlich und sowieso in den meisten Haushalten und Bauernwirtschaften vorhanden - einen großen Kessel hatte jeder. Egal ob der freistehend oder eingemauert war, er wurde am Waschtag für die Kochwäsche und ebenso beim Schlachten für das Warmmachen von Wasser und auch für das Kochen von Fleisch und Würsten genutzt.

Die Kessel wurden mit gewaschenen, entsteinten und danach zerkleinerten Pflaumen befüllt und Zucker etwa im Verhältnis 4:1 hinzugefügt. Der Zucker macht das Mus nicht nur süßer, er sorgt auch dafür, dass es länger haltbar wird. Je nach Rezept kommen dann noch Gewürze dazu. Eine besondere Note und ein fast schwarzes Aussehen erhält das Pflaumenmus durch Zugabe von einigen grünen Walnüssen mit der Außenschale.

Der Kessel wurde beheizt und es wurde über mehrere Stunden gekocht, bis eine breiige Masse entstand. Da die Pflaumen sehr lange kochen mussten, war ein ständiges Umrühren erforderlich, damit nichts anbrennt. Dazu gab es die sogenannte "Musrühre", anderenorts auch als Muskrücke oder Muskelle bezeichnet. Der langstielige Holzlöffel erlaubte beim Umrühren einen größeren Abstand zum Kessel, damit man sich nicht verbrennt, wenn die Musmasse beim Kochen aus dem Kessel spritzt.
Musrühre aus Kalzendorf, Fam. Thieme
Pflaumenmus war also in vielen Familien und Haushalten günstig und in ausreichender Menge vorhanden, es wurde deswegen auch häufig gegessen und besonders als Frühstück gab es oft Musbrot bzw. Musbemme.

Es wird berichtet, dass Heinz und Inge, die Kinder von Erich und Ida Rühlmann, öfter mit einem Musbart in die Schule kamen - entweder haben sie auf dem Schulweg noch gegessen oder aber einfach versäumt, sich den Mund zu waschen. Das brachte ihnen schnell die Spitznamen Musbarts Heinz und Musbarts Inge ein.
Im Laufe der Zeit übertrug sich das auf alle Kalzendorfer und fortan waren sie eben die Musbärte.

Kalzendorf - Pflaumenmus und Musbemme


Man geht heute davon aus, dass Pflaumen vermutlich aus dem Kaukasus und dem Altai-Gebirge stammen, von wo aus sie sich über Asien und Europa verbreitet haben. Wer dann aber als erster auf die Idee gekommen ist, aus Pflaumen ein leckeres Mus zu kochen und wo das Pflaumenmus damit ursprünglich herstammt, lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen. Bekannt ist allerdings, dass bei Ausgrabungen an antiken Tonkrügen entsprechende Reste gefunden wurden und es somit als sicher gilt, dass man bereits im alten Rom Pflaumenmus gegessen hat.
In Deutschland hat es seit Jahrhunderten Tradition und ist ein echter Küchenklassiker.

Kalzendorf Pflaumenblüte



Meyersches Musgewürz im Gasthof Otto Seidler in Calzendorf kaufen


Vielleicht trug zur Beliebtheit von Pflaumenmus in Kalzendorf auch bei, dass man das "seit einem Jahrhundert bewährte Meyersche Musgewürz" direkt vor Ort im Gasthof Otto Seidler kaufen konnte.
Dieses "allgemein beliebte ... aus garantiert reinen ... gemahlenen Gewürzen bestehende hocharomatische feinste Musgewürz" konnte man in versiegelten Tüten stets frisch zu 15, 25 und 50 Pfennig erhalten.
Und war es doch mal ausverkauft, dann konnte man es auch in Jüdendorf bei B. Bösewitz bekommen.

Calzendorf - Verkauf von Meyerschem Musgewürz im GAsthaus Otto Seidler Calzendorf - Gasthof und Laden Otto Seidler
Gasthof Otto Seidler in Calzendorf / mehr historische Aufnahmen aus Calzendorf / Kalzendorf


Pflaumenmus selber kochen - schmeckt wie von Oma


Wer es selbst einmal ausprobieren möchte und über die nötigen Gerätschaften wie Waschkessel und Musrühre verfügt, der findet hier ein altes Originalrezept für Pflaumenmus aus dem "Luisenhofer Einmachbuch", nach dem auch in Kalzendorf der köstliche Brotaufstrich zubereitet wurde.

Calzendorf - Pflaumenmusrezept im Luisenhofer Einmachbuch / Ella Thieme
Pflaumen für Pflaumenmus




Musbärte - und was sagen die Kalzendorfer selbst dazu?

Pflaume Musbart



Große Geister stehen über solchen Dingen...












Quellenangabe

Gemeindelexikon über den Viehbestand und den Obstbau für den Preußischen Staat: Google Books
Bild Pflaumenmus und Musbemme: Photo 229327591 © Magicshapes | Dreamstime.com

 

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